EVA STURM Scherenschnitte

LESEPROBE aus EVA STURM Scherenschnitte - Copyright Moa Graven

 

Das Team

 

Eva Sturm - Leitung Sondereinheit

Verena Gimpel – Gerichtsmedizinerin

Paul Bratt – Forensiker

Henriette Reisak – Ermittlerin

Bastian Hörcher – Ermittler

Willm Fehnhoff – Ermittler

Hanna Winter – Ermittlerin

Fenja Borde – Ermittlerin

Frank Ahlberg – Ermittler

Christian Dorfner – Ermittler



 

In der Dienststelle Aurich

Mittlerweile war es wieder Herbst geworden und niemand wusste, wo eigentlich die schöne Zeit des Sommers geblieben war. So ging es auch Eva, die nun in ihrem Büro saß und den üblichen Schreibkram erledigte. Sie hatte sich ganz gut eingelebt in Aurich und auch mit dem Team kam sie erstaunlich gut zurecht.

Nur mit Lombard war das so eine Sache. Sicher, sie liebten sich. Sehr sogar. Doch seitdem er sein Boot verkauft hatte, schien er die Freude am Leben verloren zu haben. Immer, wenn sie ihn in Bremen besuchte, dann versank er bald in einer Melancholie, wenn sie beim Wein zusammensaßen. Während sie immer weiter aufblühte, weil sie neue Aufgaben zu bewältigen hatte, schien für ihn das Leben vorbei zu sein. Und das konnte unmöglich alleine mit dem Angriff zu tun haben. Seine Wunde am Rücken war gut verheilt und sein Gehen war in keiner Weise mehr eingeschränkt. Sein Arzt riet ihm sogar dazu, mehr Sport zu treiben. Nicht einmal das Joggen schloss er aus, wenn man es langsam anging. Doch Lombard konnte sich zu nichts mehr aufraffen. Das saß Eva wirklich quer im Magen. Sie wusste nicht mehr, was sie noch tun sollte, um ihn zu mehr Aktivitäten zu bewegen. Und eigentlich wusste sie auch, dass es nicht ihre Aufgabe war. Er war es, der etwas tun musste. Und so langsam sah Eva gegen die Besuche in Bremen sogar an. Zu ihr nach Tannenhausen kam er nie.

Vor ihr auf dem Schreibtisch lag die offizielle Bestätigung, dass sie nun in Aurich angesetzt war. Leiterin der Sondereinheit für Schwerstkriminatlität Ostfriesland. Und mit dem neuen Titel stieg auch ihr Kontostand an. Sie hatte noch nie schlecht verdient, doch das, was jetzt jeden Monat ausgezahlt wurde, ließ sie schon ein wenig schwindelig werden bei den ersten Malen. Das meiste Geld überwies sie auf ein Tagesgeldkonto, weil sie zum Leben wirklich nicht viel brauchte. Das Haus in Tannenhausen war bezahlt und Bittner überwies ihr nun auch regelmäßig Miete für ihre Wohnung auf Langeoog, obwohl sie ihn nicht darum gebeten hatte. Doch er wollte es tun, hatte er gesagt, einfach, um sich dabei besser zu fühlen. Für die Miete hatte Eva ein Sonderkonto eingerichtet, damit sie es ihm eines Tages wiedergeben konnte, wenn er sich selber mal ein Haus oder eine Wohnung kaufen würde.

Es klopfte an ihre Bürotür. Es war Fenja, mit achtundzwanzig Jahren die Jüngste in ihrem Team.

„Hallo, Eva“, sagte Fenja.

„Hallo, Fenja. Was gibt es denn?“

Fenja setzte sich auf den Stuhl vor Evas Schreibtisch. Sie war ein burschikoser Typ, trug immer verwaschene Jeans, einen dunkelblauen Pullover und kamelfarbene Boots. Das war im Sommer so gewesen und nun im Herbst fand Eva es jahreszeitlich auch passend.

„Wir haben eine Meldung reinbekommen“, sagte Fenja, „vielleicht interessant für uns. Es geht um ein vermisstes Mädchen in Emden.“

„Aha“, machte Eva, die davon noch nichts gehört hatte. „Inwiefern denkst du, dass es ein Fall für unsere Sondereinheit sein könnte? Bestimmt arbeiten die Kollegen in Emden an der Sache.“

„Das stimmt“, bestätigte Fenja, „allerdings haben die sich auch gemeldet.“

„Ach ja?“

„Es ist die Tochter des Bürgermeisters.“

„Gibt es eine Lösegeldforderung?“

„Nein, bisher nicht.“

„Hm. Aber die Sache ist heikel, verstehe. Wird nicht im nächsten Jahr wieder gewählt?“

„Kann sein. Das Mädchen ist seit gut zwei Monaten verschwunden. Die Eltern haben sich allerdings erst gestern an die Polizei gewandt.“

Das fand Eva sonderbar.

„Zwei Monate?“, wunderte sich Eva, „und erst jetzt wenden sie sich an die Polizei? Da muss doch mehr dahinterstecken“, sagte sie, „wie alt ist das Mädchen?“

„Siebzehn.“

„Fast erwachsen, aber eben nur fast. Wieso haben die Eltern so lange mit der Meldung gewartet? Die Polizei wäre doch sofort aktiv geworden?“

Keine Frage, sie wurde neugierig auf den Fall.

„Soll ich mal nach Emden fahren und mich bei den Kollegen schlau machen?“, fragte Fenja.

Das hätte Eva nur zu gerne selber erledigt. Doch das war im Moment etwas, das sie noch koordinieren musste. Es fiel ihr wirklich nicht leicht, Dinge aus der Hand zu geben. Dazu war sie schon viel zu sehr eingefahren in ihre eigenen Ermittlungsmethoden.

„Ja, mach das. Nimm Frank mit.“

„Okay“, sagte Fenja und erhob sich wieder. Sie schob ihre Hände tief in die Taschen ihrer Jeans. „Ich melde mich dann später noch einmal, wenn ich mehr weiß.“

„Ist gut.“

Eva sah Fenja nach, als sie das Büro verließ. Es musste schön sein, wenn man noch so jung war. Ihr selber taten immer mehr die Gelenke weh. Verschleiß mit beginnender Arthrose, hatte man ihr gesagt, als sie zu einer Routinekontrolle ihrer Schulter gegangen war und nebenbei die Schmerzen in den Knien beim Aufstehen erwähnte. Das Alter, hatte der Arzt gesagt. Wenn es gar nicht mehr ginge, könnte sie auch Schmerztabletten nehmen. Ein bisschen Sport wäre auch nicht schlecht. Auf keinen Fall sollte man Bewegung vermeiden, das mache es nur noch schlimmer.

Sie stand auf und ging ein paar Schritte durch ihr Büro. Sie sah aus dem Fenster. Unten auf der Straße herrschte rege Betriebsamkeit. Menschen, die Einkäufe erledigten, zum Arzt gingen oder einfach nur mal durch Aurich schlenderten. Ich hätte so ein Leben auch haben können, mit Lombard, dachte Eva. Und dann war alles anders gekommen. Es war ihr ein Rätsel, wie es überhaupt mit ihnen beiden weitergehen sollte. Hatte sie doch einen Fehler gemacht, als sie diese Stelle angenommen hatte. Sie war doch gar kein Karrieretyp. Für Lombard allerdings musste es wie eine Entscheidung gegen ihn ausgesehen haben, auch wenn er ihr zugeraten hatte, die Chance zu ergreifen. An diesem Wochenende würde sie wieder zu ihm fahren. Bei dem Gedanken bekam sie leichte Beklemmungen. Und wenn ich noch alleine arbeiten würde, dachte sie, dann würde ich jetzt nach Emden fahren und mir nicht diese ganzen blöden Gedanken machen müssen. Damit musste wirklich endlich Schluss sein, mit dieser dämlichen Grübelei.

Sie entschloss sich, auch nach draußen zu gehen und frische Luft zu schnappen. Sich einfach in ein Café setzen und andere beobachten. Oder den sich langsam Ocker verfärbten Blättern dabei zusehen, wie sie zu Boden segelten im leichten Wind.

 

Eva bestellte sich in einem netten kleinen Café ein zweites Frühstück und setzte sich damit ans Fenster. So hatte sie einen guten Blick auf das Treiben in der Innenstadt.

Sie biss gerade in ihr Käsebrötchen, als sie Verena gegenüber vor einem Geschäft mit Schuhen stehen sah. Das war kein Problem. Ihr Team arbeitete ziemlich offen und jeder konnte machen, was er gerade wollte, wenn sie nicht in einem akuten Fall ermittelten. Wichtig war nur, dass sie erreichbar waren und dann auch mal vierundzwanzig Stunden sieben Tage die Woche durcharbeiteten, wenn es erforderlich wurde.

Sie sieht gut aus, dachte Eva und beobachtete nun, wie Verena sich am Schaufenster herunterbeugte, um wohl ein ganz konkretes Paar Schuhe ins Visier zu nehmen. Dabei fielen ihre langen dunklen Haare zur Seite und baumelten leicht vom Wind bewegt herunter. Eva konnte verstehen, dass Jan an ihr Gefallen gefunden hatte. Verena hatte im Vier-Augen-Gespräch einmal erwähnt, dass sie enger zusammengearbeitet hatten und dass damals, als Jan noch im Gespräch für die Leitung der Sondereinheit war, sie, Verena, auch mit in die Gruppe aufgenommen werden sollte. Sie hoffte, dass das kein Problem für Eva wäre. Das war es natürlich nicht, hatte Eva ihr versichert. Und sie hatte genau gesehen, wie sich Verenas Blick veränderte, wenn sie von Jan sprach. Da lief eindeutig noch etwas zwischen den beiden.

Verena hatte wohl genug gesehen und sich offenbar entschieden, die Schuhe anzuprobieren, denn sie ging nun in den Laden hinein.

Wann habe ich mir das letzte Mal neue Schuhe gekauft, fragte sich Eva. Das musste Jahre her sein. Sie hatte so eine Art Grundausstattung für jede Jahreszeit und damit ging sie durchs Leben. Mode interessierte sie eigentlich nicht. Was sie besaß, war überwiegend zeitlos, könnte man sagen. Andere würden es vielleicht langweilig genannt haben.

Eva frühstückte zu Ende und als sie nach der Bedienung winkte, um zu bezahlen, da kam Verena mit einer Einkaufstüte wieder nach draußen und eilte nach rechts abdrehend davon. Eva musste schmunzeln, denn sie hatte sich vorgenommen, auch einmal einen Blick in den Laden zu wagen.

 

Sie hatte es dann doch nur bis zum Schaufenster geschafft und da nichts gesehen, was sie wirklich ansprach. Außerdem fand sie es lästig, Schuhe im Laden anzuprobieren. Dieses ewige an- und ausziehen. Und dann die guten Ratschläge der Verkäufer, die sich wirklich Mühe gaben. Sie konnten ja nicht ahnen, mit welch störrischen Wesen sie es zu tun hatten. Um ihnen das zu ersparen, war Eva einfach zur Dienststelle zurück geschlendert.

Fenja und Frank waren noch nicht zurück aus Emden, so dass Eva sich wohl oder übel wieder ihrem Papierkram zuwandte. Desto man im Rang stand, desto mehr Bürokratie begegnete einem, dachte sie, als sie seitenweise Vorschriften las, die sie gleich danach wieder vergaß. Doch als Teamleiterin war es ihre Pflicht, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die auch die anderen Ermittler betrafen. Sie trug Verantwortung, und das nicht mehr nur für sich.

 


Im Sommer dieses Jahres

Es war schon fast schwül gewesen an diesem Sommertag im Juli, als Gitta Behrends mit den Vorbereitungen für das Sommerfest, zu dem sie und ihr Mann immer die gesamte Nachbarschaft in ihren Garten einluden, beschäftigt gewesen war. Die ganze Straße in ihrer Siedlung war eingeladen, so dass sie mit rund fünfzig Gästen rechnete. Gitta ging ganz in der Rolle der Bürgermeistergattin auf, so viel war sicher. Sie wurde bei ihren Arbeiten von einem Cateringservice unterstützt, der für das Essen zuständig war. Doch die Arrangements auf den Tischen, die Gläser, das Besteck und die schönen weißen Tischdecken, da ließ Gitta niemand anderen ran. Alles musste perfekt sein. Die Leute sollten, wenn sie sich am nächsten Tag zufällig trafen, von diesem Abend schwärmen und sich schon aufs nächste Jahr freuen.

Es sind alles potentielle Wähler von Otto, dachte sie nun, als sie die langstieligen Kelche für den Rotwein vorsichtig aus den Körben nahm. Drei Jahre war es nun her, dass Otto den Stuhl im Rathaus erobert hatte. Auch im Wahlkampf hatte Gitta praktisch keinen Termin ihres Mannes versäumt. Sie sprach sich durchaus einen Anteil an seinem Erfolg zu, doch das tat sie eher im Stillen. Sie wusste, wie hart Otto arbeitete, wie viele Hände er schüttelte und was er sich alles anhören musste in seiner Funktion. Leicht war das sicher nicht immer. Also gönnte sie es ihm, dass er sich abends bei einem Cognac mit einer feinen Zigarre in seinem Erfolg sonnte, wenn er ihr von den Vorkommnissen des Tages berichtete.

Sie summte einen aktuellen Schlager, als sie eine Tür im Haus zuschlagen hörte. Otto konnte das nicht sein. Vermutlich war Charly endlich aufgestanden. Das Mädchen hatte Sommerferien und Gitta gönnte ihr eine Auszeit vom Leistungsdruck im Gymnasium. Dann kam Charly nach draußen, ein Glas O-Saft in der Hand.

„Na, ausgeschlafen“, neckte Gitta ihre Tochter.

„Mama, ist das etwa heute, das Fest?“

„Ganz genau. Und du wirst auch dabei sein.“

„Mama, echt jetzt? Ich bin eigentlich mit meinen Freunden verabredet.“

Das kannte Gitta schon. Charly war mit ihren siebzehn Jahren schon recht flügge. Aber trotzdem wollte sie, dass die Nachbarn auch sahen, was für eine wunderbare und gut erzogene Tochter der Bürgermeister hatte.

„Lass uns einen Kompromiss schließen“, sagte Gitta, „du bleibst bis nach dem Essen. Danach löst sich die Sitzordnung sowieso auf und die Gäste trinken und stehen an den Stehtischen und bilden Gruppen. So ist das ja immer.“

„Und wann ist das Essen vorbei?“, fragte Charly mürrisch.

„Gegen neun spätestens, denke ich“, antwortete Gitta, „bitte, Schatz, tu es für deinen Vater. Du weißt, dass wir im nächsten Jahr wieder Wahlen haben.“

„Aber was hab‘ ich damit zu tun?“

„Nicht schon wieder diese Diskussion, bitte. Du weißt, wie wichtig unser familiäres Ansehen ist, wenn dein Vater wiedergewählt werden soll.“

„Och man“, stöhnte Charly. Sie ließ sich in einen Gartenstuhl fallen und reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen.

„Möchtest du etwas frühstücken, mein Schatz? Ich könnte dir Rührei mit Toast machen. Na, was denkst du?“

Gitta strich ihrer Tochter eine lange blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie ist uns wirklich gut gelungen, dachte sie voller stolz.

„Ein bisschen Hunger hätte ich schon“, gab Charly zu und lächelte ihre Mutter an.

„Na, dann komm, lass uns in die Küche gehen. Hier draußen ist die Hitze ja sowieso langsam unerträglich. Ich kann auch am Nachmittag mit dem Dekorieren der Tische weitermachen.“

 

Später am Abend, als die Sonne langsam hinter den hohen Bäumen verschwand, stand Gitta in ihrem kobaltblauen Abendkleid im Garten und sah über die schön gedeckten Tische hinweg. Das Wetter war einfach perfekt für ein Gartenfest, fand sie. Und auch Otto müsste eigentlich gleich aus dem Büro kommen.

Sie sah zum Haus. Uns geht es wirklich gut, dachte sie. Es war richtig gewesen, alles auf eine Karte zu setzen und Ottos Karriere zu unterstützen. Bevor er sich für die Kandidatur entschieden hatte, da war Gitta auf Teilzeitbasis in einer Bankfiliale beschäftigt gewesen. Zunächst hatte sie wegen des Wahlkampfs die Stunden reduziert und nach Ottos Sieg hatte sie gekündigt, um ganz für die Familie da zu sein. Sie bereute nichts. Oben am Fenster sah sie Charly, die sich auf die Fensterbank gesetzt hatte und verträumt nach draußen sah. Sie trug immer noch ihren Jogginganzug. Und in einer Stunde kamen die ersten Gäste. Also ging Gitta ins Haus, um ihre Tochter zu bitten, sich langsam umzuziehen.

Dann, nach einer Viertelstunde wurde es langsam hektischer, als der Cateringservice mit seinen Vorbereitungen für das Essen begann. Es gab verschiedene Salate, Fisch- und Fleischplatten. Und auch für Vegetarier war etwas bestellt worden, weil der Trend immer mehr dahin ging, auf Fleisch zu verzichten. Auch Charly aß schon lange keine Tiere mehr, wie sie immer betonte.

Gitta füllte die Gläser auf dem silbernen Tablett mit Champagner, der zur Begrüßung gereicht werden sollte. Sie hätte das nicht selber machen müssen, doch einfach nur nutzlos herumzustehen und zu warten, das war nicht ihre Art.

Otto kam noch pünktlich, bevor die ersten Gäste eintrafen. Es wurde geplaudert, Champagner getrunken und viel gelacht, bis endlich alle anwesend waren und man sich an die Tische setzen konnte für das Dinner.

Wo bleibt Charly nur, fragte sich Gitta, als sie auf den leeren Platz neben sich sah. Otto indes fragte gar nicht nach seiner Tochter. Ihm wäre es auch egal gewesen, wenn sie nicht bei dem Gartenfest dabei gewesen wäre. Eigentlich hatte Charly bei ihm sowas wie Narrenfreiheit, wie Gitta manchmal mit scharfem Unterton bemerkte, wenn es ihr wieder einmal nicht gefiel, wie ihre Tochter sich benahm. Die Erziehungsarbeit blieb größtenteils an ihr hängen. Darüber hatte es in früheren Jahren schon des Öfteren Streit gegeben. Doch nun war Charly fast erwachsen. Mit Erziehungsversuchen kam man da nicht mehr weit. Nun hieß es, kompromissbereit zu sein.

Die Bediensteten schenkten Rot- und Weißwein aus und es herrschte eine lebhafte Stimmung an den Tischen. Dann eröffnete Gitta förmlich das Buffet, indem sie allen für ihr Erscheinen dankte und betonte, dass es bestimmt ein wunderschöner Abend werden würde. Die ersten Gäste standen auf und nahmen sich Teller und Besteck.

„Das läuft doch alles wie geschmiert“, flüsterte Otto seiner Frau zu. „Das hast du wieder fabelhaft hinbekommen, meine Liebe.“

Dieses Lob entspannte Gitta ein wenig. Doch Charly war immer noch nicht nach draußen gekommen.

Erst, als die meisten Gäste schon mit ihren gefüllten Tellern zurückgekehrt waren und wieder an ihrem Platz saßen, da kam Charly durch die Verandatür nach draußen. Und Gitta traf fast der Schlag. Da brauchte es schon viel Fantasie, um das, was Charly da am Leib trug, als Kleidung zu bezeichnen. Es war mehr von ihrer nackten Haut zu sehen, als von irgendwelchen Stoffen. Bleib ruhig, beschwor sich Gitta, sie will dich nur provozieren. Das ist ihre Art, dir zu zeigen, dass sie sauer ist, weil sie hier sein muss. Nur keine Szene vor den ganzen Gästen. Gitta krampfte die Hände unter ihrem Stuhl und machte gute Miene zum bösen Spiel.

Otto hatte mal wieder nichts mitbekommen und unterhielt sich angeregt mit seinen Tischnachbarn über politische Themen.

Lässig schlenderte Charly über den Rasen bis hin zu dem Platz neben ihrer Mutter und setzte sich.

„Warum tust du mir das an“, zischte Gitta für andere nicht hörbar ihrer Tochter zu, während sie weiter lächelte.

„Soll ich lieber gehen?“, fragte Charly, „kein Problem.“

„Darüber reden wir noch.“

Gitta schob Charly ihren eigenen bereits gefüllten Teller zu, damit ihre Tochter nicht auch noch in dem Aufzug am Buffet Aufsehen erregte. Es reichte auch so schon, dass einige der männlichen Nachbarn ihre Augen nicht mehr von Charly lösen konnten. Es war eine demütigende Situation für Gitta und sie schämte sich für ihr eigenes Kind.


In Emden

Fenja und Frank saßen im Wohnzimmer des Bürgermeisters und warteten auf ihn. Als Fenja im Rathaus angerufen hatte, um ihm ihren Besuch anzukündigen, da hatte er darum gebeten, dass sie sich bei ihm zu Hause treffen sollten. Er wolle im Rathaus keinen Staub aufwirbeln, hatte er gesagt.

Gitta Behrends, die die beiden Beamten hereingelassen hatte, war in der Küche, um einen Kaffee vorzubereiten.

„Komisches Verhalten, finde ich“, sagte Fenja, während sie sich im Wohnzimmer umsah. „Die Tochter ist verschwunden und er redet von Staub aufwirbeln.“

„Tja“, machte Frank, „was tut man nicht alles für seinen guten Ruf.“

„Seine eigene Tochter ihrem Schicksal überlassen?“

Sie hörten Schritte und verstummten.

Gitta kam herein und stellte Tassen, Milch und Zucker auf den Tisch. Dabei zitterten ihre Hände leicht. Sie sah blass aus und irgendwie verhärmt.

Es nimmt sie richtig mit, dachte Fenja. Ob es auch in ihrem Sinne gewesen war, die Polizei erst nach Wochen einzuschalten, fragte sie sich. Welche Mutter hielt diese Ungewissheit aus, ohne etwas zu unternehmen.

„Mein Mann wird gleich da sein“, sagte Gitta und verschwand wieder aus dem Wohnzimmer.

Da ging auch schon die Tür im Flur. Gitta war ihrem Mann wohl entgegengelaufen, denn nun unterhielten sich die beiden in halber Lautstärke im Flur.

Dann kam Otto Behrends herein. Sein großer wuchtiger Körper ließ seine Frau neben ihm noch mehr verblassen. Er gab beiden Ermittlern die Hand und setzte sich dann in einen freien Sessel.

„Ich hole mal den Kaffee“, sagte Gitta und huschte wieder davon.

„Vielen Dank, dass Sie Rücksicht nehmen“, begann Otto das Gespräch, „ich möchte nicht, dass die ganze Stadt über unsere Tochter spricht.“

„Über Ihre verschwundene Tochter“, korrigierte Fenja ihn.

„Ja, natürlich. Es ist eine furchtbare Sache. Gitta, also meine Frau, sie kann kaum noch schlafen.“

Das sieht man ihr an, dachte Fenja erneut.

Gitta kam mit einer Thermoskanne zurück und schenkte für jeden eine Tasse ein. Dann setzte auch sie sich in einen freien Sessel und sah erwartungsvoll in die Runde.

„Wieso schalten Sie die Polizei jetzt erst ein?“, fragte Frank, „Ihre Tochter ist doch bereits seit fast zwei Monaten verschwunden.“

Es klirrte, als Gitta nach ihrer Kaffeetasse griff. Sie konnte das Zittern ihrer Finger nicht unterdrücken.

„Wir gingen zunächst davon aus, dass Charly, also, ich meine, Charlotte, aber wir nennen sie seit Kindesbeinen an alle nur Charly, also, wir, meine Frau und ich“, er deutete auf Gitta, „wir gingen davon aus, dass sie bei Freunden ist.“

„Bei welchen Freunden?“, fragte Fenja.

„Ach, da gibt es viele verschiedene“, antwortete Otto Behrends ausweichend. „Ehrlich gesagt, ich kenne nicht alle und schon gar nicht mit Namen. Charly ist sehr beliebt bei allen. Sie kann es sich aussuchen, mit wem sie die Zeit verbringen will.“

„Gut“, sagte Fenja, „dann kam es also öfter vor, dass Ihre Tochter wochenlang nicht nach Hause kam?“

„Nein“, sagte Gitta und sah verstohlen zu ihrem Mann. So, als bereute sie schon, überhaupt den Mund aufgemacht zu haben. „Naja, hin und wieder schon“, lenkte sie dann ein, als sich ihre Blicke trafen. „Charly wird nächstes Frühjahr achtzehn. In dem Alter lässt man sich nichts mehr von seinen Eltern sagen.“

„Aber sie wohnt noch hier bei Ihnen“, widersprach Fenja, „da könnte man schon denken, dass sie wenigstens Bescheid sagt, wenn sie vorübergehend bei Freunden wohnt.“

  „Natürlich“, sagte Otto, „das wäre schon angebracht. Aber junge Menschen scheren sich doch nicht um solche Dinge. Oder waren Sie da anders?“

„Vielleicht haben Sie recht“, gab Fenja zu, „fast erwachsene Kinder sagen einem nicht immer alles. Ich möchte nur herausfinden, ob es üblich war, dass Charly wochenlang weg war, ohne ein Wort zu sagen. Dann besteht nämlich die Hoffnung, dass sie sich in den nächsten Tagen doch noch wieder bei Ihnen meldet oder gar hier auftaucht.“

„Das hoffen wir ja auch“, sagte Gitta und seufzte auf.

Irgendwie ist das hier kein Fall für uns, dachte Frank. Hier hätten genauso die Emder Kollegen sitzen können.

„Wieso war es Ihnen so wichtig, dass wir von der Sondereinheit in Aurich uns um die Sache kümmern?“, fragte er deshalb auch.

„Nun ja“, sagte Otto und trank einen Schluck Kaffee, bevor er weitersprach, „im nächsten Jahr wird wieder gewählt und da möchte ich ungern, dass die gesamte Polizei von Emden darüber informiert ist, dass meine Tochter mal ein paar Tage nicht nach Hause kommt und wir nicht wissen, wo sie ist.“

„Es geht Ihnen also um Ihr Ansehen als Bürgermeister?“, fragte Fenja.

„Das mag für Sie nicht nachvollziehbar klingen“, wehrte sich Otto, „aber für mich ist es wichtig, was andere über mich denken.“

„Und über Ihre Tochter“, fügte Fenja hinzu. So langsam keimte in ihr der Verdacht auf, dass Charly ein ganz schön wildes Leben führte, dass der Vater unter den Teppich zu kehren versuchte, damit nicht an seinem Leumund als Bürgermeister gekratzt werden konnte. „Nimmt Ihre Tochter Drogen oder Ähnliches?“

„Was?“, stieß Gitta aus, „natürlich nicht.“

„Sind Sie sich da ganz sicher?“ Fenja ließ ihren Blick über Gitta hin zu Otto wandern.

„Wir wissen es nicht“, sagte Otto.

„Was wissen Sie überhaupt über Ihre Tochter?“, fragte Frank, „Sie kennen Ihre Freunde nicht und Sie wissen nicht, wo sie ist, wenn sie so lange verschwunden ist. Für mich klingt das nicht unbedingt nach einem funktionierenden Elternhaus.“

„Wie reden Sie eigentlich mit uns?“, sagte Gitta und wirkte plötzlich hart.

„Gitta“, sagte Otto und hob eine Hand, die ihr bedeuten sollte, dass sie es ruhiger angehen lassen sollte. „Ich denke, diese Ermittler wollen nur mehr über Charly erfahren, um uns zu helfen.“ Er machte eine kurze Sprechpause und knöpfte seinen obersten Hemdknopf auf, nachdem er die Krawatte gelockert hatte. „Es ist schon richtig“, sagte er dann freier atmend, „es ist nicht immer leicht, mit Charly zurechtzukommen. Sie hat ihren eigenen Kopf und hört kaum noch auf das, was wir sagen. Aber wie meine Frau schon sagte, sie wird bald achtzehn. Vermutlich ist es normal und eine Art Abnabelungsprozess von uns.“

„Aber was genau erwarten Sie jetzt eigentlich von uns?“, fragte Fenja. „Wenn wir nach Ihrer Tochter suchen sollen, dann wird das nicht lautlos vonstattengehen können. Wir werden potenzielle Freunde befragen müssen, Nachbarn und andere Menschen, mit denen Ihre Tochter in Kontakt stand.“

„Also, als ich mit dem Polizeichef in Osnabrück telefoniert habe, da hat er mir versichert, dass Sie sehr diskret vorgehen werden“, sagte Otto sehr bestimmend.

Daher weht also der Wind, dachte Fenja und warf Frank einen entsprechenden Blick zu. Otto Behrends hatte einen guten Draht zur Polizei bis ganz nach oben. Deshalb war die Sondereinheit angesetzt worden. Aber um was zu tun. Im Moment war ihr das noch nicht ganz klar. Das würden sie nachher mit Eva besprechen müssen. Und so, wie es aussah, kamen sie hier im Moment nicht wirklich weiter, weil das Ehepaar völlig abblockte.

„Dürfen wir uns vielleicht einmal in Charlys Zimmer umsehen?“, fragte Fenja deshalb, um diesen Besuch so bald als möglich zu beenden.

Gitta sah fragend zu ihrem Mann. Dieser nickte.

„Sicher, machen Sie ruhig. Es ist oben die dritte Tür links.“

Fenja und Frank gingen auf den Flur und dann über eine schön geschwungene Treppe nach oben.

Es war ein großes helles Zimmer mit schlichten Möbeln und nur wenig Krimskrams. Eigentlich war es hier sehr ordentlich, ja, schon fast zu ordentlich. Passte das zu dem Bild, das die Eltern gerade von Charly gezeichnet hatten. Einem jungen Mädchen, dass sich nicht um Regeln scherte.

„Wahrscheinlich hat die Mutter hier aufgeräumt“, vermutete Fenja und zog hier und da Schubladen auf und sah kurz hinein. „Wenn hier etwas gewesen ist, dass uns weiterhelfen könnte, zum Beispiel Drogen oder Kontaktinformationen, dann ist es jetzt auf jeden Fall weg. Man will ja schließlich keinen Staub aufwirbeln“, äffte sie Otto Behrends nach.

„Irgendwas ist hier faul“, meinte Frank und stimmte seiner Kollegin zu.

Fenja nahm ein Foto, das mit einer Stecknadel an einer Pinnwand hing, ab und steckte es in ihre Jackentasche. Es zeigte Charly in einem knappen Bikini auf einer Liege in der Sonne. Sie lachte fröhlich in die Kamera. Ganz anders als auf dem Foto, das unten im Wohnzimmer an der Wand hing, wo sie mit ihren Eltern von einem professionellen Fotografen aufgenommen worden war. Da lächelte sie nicht.


Im Keller

Charly hatte angefangen zu beten. Und wenn das jetzt ihre Mutter sehen könnte, wie sie die Hände faltete und zu Gott sprach und ihn um Hilfe bat, hier wieder rauszukommen, es hätte ihr vermutlich gefallen.

„Mama“, flüsterte Charly, „ich mache alles wieder gut, wenn ich wieder zuhause bin. Nie wieder werde ich halbnackt durch die Gegend laufen, das verspreche ich dir. Ich werde im Haushalt helfen und in der Schule nur noch gute Noten schreiben. Ich hoffe, Gott hört mich.“

Dann fing Charly wieder an zu weinen. Was hatte sie nur falsch gemacht, dass es ausgerechnet sie getroffen hatte. Natürlich, sie war keine besonders liebenswürdige Tochter gewesen. Immer aufmüpfig und ungehorsam. Und sie trieb sich mit den falschen Leuten herum. Seit einem halben Jahr rauchte sie auch Hasch. An härtete Drogen, die ihre Freunde nahmen, traute sie sich nicht heran. Doch das war nur eine Frage der Zeit, wurde ihr bewusst.

Seit vielleicht einem Monat oder doch mehr, war sie nun hier unten im Keller. Gefangen von einem Mann, der ihr von hinten ein dunkles Tuch über den Kopf gestülpt hatte, als sie draußen an der Bushaltestelle auf ihre Freunde wartete, die sie mit dem Wagen abholen wollten. Es war ein ganz normaler Tag gewesen, an dem sie ihre Eltern nur beim Frühstück und später ihre Mutter beim Kaffee gesehen hatte. Sie hatte keine Lust darauf gehabt, dabei zu sein. Doch ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie sich wenigstens diese halbe Stunde für ihre Mutter nehmen könnte. Da hatte Charly zugestimmt, um noch weiteren Ärger zu vermeiden. Danach war sie dann losgezogen, um auf ihre Freunde zu warten. Genau konnte sie die Tage nicht mehr zählen, da es im Keller immer dunkel war, nur nicht, wenn er zu ihr kam, um ihr etwas zu essen zu bringen. Es gab Brot mit Käse und Wasser dazu.

Die ersten Male hatte sie nichts angerührt. Er hatte alles wieder mitgenommen und gemeint, sie werde schon noch zur Vernunft kommen. Er hatte recht behalten. Wenn sie überleben und wieder hier raus wollte, dann musste sie bei Kräften bleiben und etwas essen. Sonst gab sie die Hoffnung ja gleich auf, jemals wieder hier rauszukommen.

Das fahle Licht sprang an. Ihre Augen gewöhnten sich schnell daran, weil es für sie in diesen dunklen Stunden nichts Schöneres gab, als etwas sehen zu können. Egal was. Sie hatte nicht gewusst, wie furchtbar Dunkelheit sein konnte. Wie es einen quälte, sich und die Umgebung nicht sehen zu können. Dafür hörte sie dann umso mehr. Vor allem hörte sie ihren eigenen Atem, manchmal meinte sie sogar, dass sie ihr Blut in den Adern zirkulieren hören konnte. Sie hatte Angst, verrückt zu werden.

Der Mann, der immer eine Clownsmaske trug, wenn er zu ihr kam, kroch auf Knien in den Kellerraum. Er schob das Tablett mit dem Brot vor sich her. Als er ganz im Raum war, richtete er sich wieder auf. Er war so groß, dass er fast mit dem Kopf an die Decke gestoßen wäre. Er stellte das Tablett neben ihr auf der Matratze ab.

„Iss“, sagte er. Dann zog er etwas aus seiner Hosentasche. Es blitzte kurz auf, als das Licht darauf fiel.

Hat er mir etwas mitgebracht, fragte sich Charly. Vielleicht eine Gabel. Aber die brauchte man für das Brot ja gar nicht. Und dann, als er den Gegenstand zwischen seine Finger nahm und in die Höhe hob, da erkannte sie, was es war. Eine Schere.

Ihr Herz machte einen Satz. Würde er jetzt wirklich ihre Fesseln um ihre Handgelenke durchschneiden und sie gehen lassen.

„Schnipp schnapp“, sagte er und ließ die Schere auf und zu klappen.

Charly traute sich kaum noch, zu atmen. Ans Essen war überhaupt nicht mehr zu denken. Fasziniert sah sie dem Clown dabei zu, wie er nun begann, sich um die eigene Achse zu drehen. Und dabei klappte immer wieder die Schere auf und zu. Er lachte höhnisch und wiegte seinen Körper hin und her, als befolge er ein Ritual.

Er wird mich nicht freilassen, dachte Charly. Sonst hätte er längst die Fesseln durchgeschnitten. Aber was will er dann mit der Schere. Will er mir die Haare abschneiden. Es wäre ihr egal gewesen. Sie wusste ja sowieso nicht mehr, wie sie eigentlich aussah. Die Kleidung, die sie getragen hatte, hatte er ihr ausgezogen. Sie war komplett nackt. Doch auch das war ihr jetzt egal. Zu Anfang, da hatte sie sich noch geschämt, als sie nackt vor ihm gestanden hatte und er sie von oben bis unten betrachtete. Sie hatte gehört, wie geräuschvoll er hinter der Clownsmaske geatmet hatte. Ihre Angst, dass er sie vergewaltigen würde, hatte sich nicht bestätigt.

Er blieb abrupt wieder stehen und sah in ihre Richtung.

„Iss jetzt“, wiederholte er, „du weißt, dass ich das Brot sonst wieder mitnehme. Und dann wird es lange dauern, bis ich wiederkomme.“

Mit zitternden Fingern griff Charly nach dem Käsebrot und biss einen Happen davon ab, während ihre Augen weiter die Schere fixierten.

„Wozu brauchen Sie die Schere?“, fragte sie mit hauchdünner Stimme.

Er sah nun selber auf die Schere, hielt sie weiter von sich, ließ sie wieder auf und zuklappen. Aber er antwortete ihr nicht. Stattdessen sah er ihr dabei zu, wie sie alles verzehrte. Danach ging er zu ihr und nahm das Tablett wieder an sich.

Er wandte sich um und ging in die Knie.

„Bitte“, bettelte Charly, „lassen Sie das Licht an. Es ist so furchtbar im Dunkeln.“

Er drehte sich wieder zu ihr um. Sie wusste nicht, was jetzt in ihm vorging, weil sein Gesicht hinter der Maske verborgen war. Und da dachte sie, eigentlich hat er gar nicht vor, mich umzubringen, sonst würde er ja keine Maske tragen. Nur, wenn ich ihn identifizieren könnte, wäre es für ihn wichtig, mich zu töten. Das gab ihr ein wenig Auftrieb, Hoffnung.

„Es macht für Sie doch keinen Unterschied, ob hier das Licht an ist“, flehte sie weiter, „aber für mich ist es wichtig. Ich halte die Dunkelheit einfach nicht mehr aus. Bitte, lassen Sie das Licht an. Wenigstens das, wenn Sie mich schon nicht gehen lassen.“ Es rannen Tränen über ihr Gesicht, die nach Salz schmeckten.

„Na gut“, sagte er, „aber nur für eine Stunde. Dann musst du schlafen, hast du gehört.“

„Ja“, seufzte sie, „danke.“

Er kroch wieder auf allen vieren aus dem Keller. Danach ging die Tür zu und ein Schlüssel wurde herumgedreht.

Charly hielt den Atem an. Das Licht blieb tatsächlich an. Ich habe einen persönlichen Kontakt zu ihm hergestellt, dachte sie. Er hat meiner Bitte entsprochen. Ich bin ihm also nicht völlig egal. Vielleicht gibt es ja doch eine Chance für mich, hier noch lebend herauszukommen. An diesen Gedanken klammerte sie sich, als sie sich unter der Wolldecke verkroch. Es war nicht viel, was sie sehen konnte, denn soviel gab es hier unten gar nicht. Die kahlen grauen Wände, die gestreifte Matratze, auf der sie lag. Sie hielt ihre Hände in die Höhe und betrachtete sie lange. Sie waren knochig geworden. Sie hatte abgenommen. Wie oft hatte sie in den Spiegel gesehen und ihre Hüften kontrolliert, ob da auch ja nicht ein Gramm Fett zu viel an der falschen Stelle war. Nun allerdings wäre es ihr egal, auch wenn sie über hundert Kilo wiegen würde. Wie sich die Dinge verschoben, wie banal manches wurde, wenn man an die Grenzen des Erträglichen kam.   

 

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Moa Graven aus dem Krimihaus